Zu Gast in der Jugendstrafanstalt Berlin

Robert Glunz, Vorstand der Deutschen Stiftung Mediation, war 2017 zu Gast in der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin. In der JSA wird seit nunmehr 10 Jahren das sehr interessante und einmalige Projekt „PeerMediation hinter Gittern“ durchgeführt, über das wir uns ausführlich informieren durften.

          

In der JSA Berlin befinden sich ca. 300 jugendliche Inhaftierte. Sie sind zwischen 14 und 24 Jahre alt. Das Bildungs- und Sprachniveau der Inhaftierten ist sehr unterschiedlich und eher niedrig.

Interessierte Inhaftierte können an einer 20-wöchigen internen Mediationsausbildung teilnehmen. Parallel finden stetig drei Ausbildungskurse (je 2 Stunden pro Woche) statt. Nach erfolgreich abgelegter schriftlicher und mündlicher Prüfung sowie Feststellung der charakterlichen Eignung bearbeiten die ausgebildeten Inhaftierten als „PeerMediatoren“ Konflikte zwischen Insassen in einem Mediationsverfahren. Die Mediationen (in der Regel wird eine Mediationssitzung abgehalten) werden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendstrafanstalt unterstützend begleitet.

Zum erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung erhalten die Teilnehmer ein PeerMediatoren-T-Shirt, welches sich bei ihnen, die ansonsten Anstaltskleidung tragen müssen, großer Beliebtheit erfreut. Das T-Shirt ist ein Statement für gewaltfreie Konfliktlösung und macht die PeerMediatoren im vollzuglichen Alltag für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicht- und ansprechbar. 

Robert Glunz hatte die Gelegenheit, an einer Unterrichtseinheit teilzunehmen. Sieben Inhaftierte waren Teilnehmer dieser Einheit. Es wurden zunächst einige Punkte (Regeln, Prinzipien, Phasen) aus vorangegangenen Unterrichtsstunden wiederholt. Danach mussten die Teilnehmer verschiedene Situationen in Bezug auf ihre Eignung für ein Mediationsverfahren beurteilen. Anschließend wurden anhand von Bildmaterial die Eskalationsstufen von Glasl vorgestellt. Die Teilnehmer machten einen sehr motivierten Eindruck. Auf die Frage „Warum nehmen Sie an dieser Ausbildung teil?“ wurden unterschiedliche Antworten gegeben, z. B.:

„Ich habe jemanden mit dem T-Shirt gesehen; das fand ich stark und habe mich dann dafür interessiert, wie man so etwas bekommt.“
„Ich glaube, es ist besser, Konflikte zu lösen, statt sie zu verursachen.“
„Ich hoffe, dass ich später draußen anders reagiere, wenn es Streit gibt.“

Das folgende Interview gibt weitere Einblicke in dieses bemerkenswerte Projekt. Robert Glunz sprach mit

Birgit Lang, pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin der JSA Berlin (Projektleiterin)
Nicole Marschner, Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin und externe Dozentin
Hartwig Taege, become Beratung Coaching Mediation und externer Dozent.

Wie ist die Idee zu dem Projekt „PeerMediation“ entstanden?

Birgit Lang:

Die Idee ist aufgrund meiner eigenen Mediationsausbildung entstanden. Einerseits wollte ich anwenden und bewahren, was ich erlernt habe, andererseits dachte ich, die Mediation hat recht viel mit dem zu tun, was im Vollzug passiert, und dass es optimal wäre, wenn wir das für die Entwicklung einer konstruktiven Konfliktkultur nutzen könnten.

2003 habe ich die erste Mediationsausbildung mit zwei Honorarkräften im Rahmen eines EU‑Projektes modellhaft erprobt. Das war erfolgreich und hat den Jugendlichen auch viel Spaß gemacht. Wenig später kam Hartwig Taege zu unserem Team dazu und es gelang uns, regelmäßige Mediationsausbildungen für die Jugendlichen anzubieten:  ein zweistündiges Treffen pro Woche und drei Ausbildungsrunden parallel.

Im Prinzip geht es darum, dass die Jugendlichen am Vollzugsgeschehen immer mehr partizipieren sollen, also auch daran, wie sie ihre eigenen Konflikte lösen. Das Projekt PeerMediation hinter Gittern geht davon aus, dass eine ganzheitliche Gewaltprävention im Strafvollzug nur dann funktioniert, wenn die Jugendlichen die Möglichkeit haben, die Kommunikations- und Konfliktkultur aktiv mitzugestalten und selbstbestimmte Lösungsszenarien zu entwickeln.

Die Idee ist also, dass die Konfliktparteien selbst eine Lösung finden, wie sie in Zukunft besser miteinander klarkommen, ohne dass man unbedingt eine Strafe verhängen muss.

Welche Ziele hat das Projekt „PeerMediation hinter Gittern“?

Birgit Lang:

Auf der Ebene der Institutionen hat es eine Veränderung der Konfliktkultur und dem Umgang mit Konflikten zum Ziel.

Auf Ebene der Inhaftierten ist ein Ziel, die Fähigkeit zu vermitteln, Konflikte selber in die Hand zu nehmen und auch selbstständig zu lösen. Es geht darum, neue Konzepte, neue Strategien im Umgang mit Konflikten zu entwickeln. Das alles kann man unter den großen Begriff „soziale Kompetenzentwicklung“ fassen.

Die Inhaftierten sollen auch Strategien lernen, um Konflikten möglicherweise aus dem Weg zu gehen oder zu vermeiden. Sie sollen relativ frühzeitig merken, an welchem Punkt sie aus einer konfliktträchtigen Handlungskette aussteigen können und wo sie – ohne das Gesicht zu verlieren – noch einmal einen Schritt zurückgehen können. Da muss man einschätzen können, in welcher Phase des Konfliktes man sich gerade bewegt, in der man noch ohne Gesichtsverlust die Szene wieder verlassen kann. Die Teilnehmer sollen dafür sensibilisiert werden, was konfliktreiche Situationen sind und woraus sich konfliktreiche Situationen entwickeln können.

Hartwig Taege:

Die Fähigkeit, einen Perspektivwechsel vornehmen zu können, und sich in einen anderen hineinzuversetzen, zu überlegen, warum könnte der das wohl gesagt, gemacht oder getan haben, soll geschult werden Muss ich das auf mich beziehen, meint der überhaupt mich, oder hat das eigentlich mit etwas ganz anderem zu tun? Diese Eigenverantwortlichkeit, also Verantwortung für sich selbst und seinen Konflikt zu übernehmen, macht die Jugendlichen stark für kommende Konflikte.

Nicole Marschner:

Ich muss gerade an eine Geschichte denken, in der wir einen ehemaligen Insassen draußen getroffen haben, der meinte: Na ja, Mediation, ob ihm das jetzt so richtig was gebracht hat, weiß er nicht. Außer mit seiner Freundin. Mit der würde er jetzt irgendwie ganz anders reden, das Verhältnis wäre viel entspannter.

Ein Inhaftierter hat uns erzählt, dass er nach der Mediationsausbildung das erste Mal an Weihnachten nach Hause geht und weiß, dass es nicht zum Streit kommen wird mit seiner Mutter, weil er diesmal ein paar Ideen entwickelt hat, wie er mit seiner Mutter vielleicht stressfrei durch die Weihnachtsfeiertage kommt. Das sind dann Glücksmomente, auch für uns Trainer(innen).

Ist der Gedanke der PeerMediation im Jugendstrafvollzugsgesetz irgendwie verankert?

Birgit Lang:

Im aktuellen Berliner Jugendstrafvollzugsgesetz gibt es den Paragraphen 96 ‚Einvernehmliche Konfliktregelung und erzieherische Maßnahmen‘. Dort steht unter Pkt. 2 „Im Rahmen der einvernehmlichen Konfliktregelung … ist auch die Teilnahme an einer Mediation in Betracht zu ziehen“. Das ist für uns ein sehr positives Zeichen, dass tatsächlich die Mediation, die bis dato nicht im Gesetz mitenthalten war, in der neuen Fassung von 2016 namentlich benannt wird. Das ist sicherlich auch auf das Engagement von Herrn Luxa, dem ehemaligen Leiter dieser Anstalt, zurückzuführen, der sich die Verankerung der PeerMediation im Justizvollzugsalltag auf die Fahne geschrieben hat.

Welche Unterstützung braucht so ein Projekt aus Ihrer Sicht intern?

Birgit Lang:

Um eine konstruktive Konfliktkultur zu entwickeln, ist die Unterstützung auf unterschiedlichsten Ebenen in einer Justizvollzugsanstalt notwendig. Es ist einfach sehr wichtig, dem Ganzen einen Rahmen zu geben. Das ist das Plus des Projektes PeerMediation hinter Gittern. 2013 habe ich die AG „PeerMediation“ ins Leben gerufen; das ist eine Gruppe von Unterstützern aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst, dem Werksdienst und dem Sozialdienst, d. h., dieses Projekt wird von Kolleginnen und Kollegen mitgetragen , die in den Unterbringungsbereichen und Werkstätten arbeiten und die den Inhaftierten ein Feedback geben können, wenn sie aus der Mediationsausbildung zurückkommen und etwas Neues ausprobieren wollen. Die Verhaltensweisen, die wir versuchen bei ihnen zu etablieren, sind ja erst einmal neu für sie. Sie probieren diese dann aus, und in der Regel werden sie damit nicht auf Anhieb erfolgreich sein. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort können die Jugendlichen dann auffangen oder die Situation gemeinsam auswerten. Es ist aber auch wichtig, dass die Anstaltsleitung und die Vollzugsleitung das Projekt unterstützen. Sie können viele Akzente und Impulse setzen, Anregungen geben. So werden z. B. alle dienstliche Meldungen auf Leitungsebene diskutiert, und hier besteht die Möglichkeit zu sagen: „Wir empfehlen eine PeerMediation.“ Es ist wichtig, dass der Prozess top down und bottom up, also von der Leitungsebene und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen wird und er sich dann irgendwo auf der Mitte trifft. Nur so kann ein Projekt im Alltag dauerhaft verankert und implementiert werden.

Gibt es so eine Art Lobby für dieses Thema? Sie erwähnten schon die Anstaltsleitung. Vielleicht gibt es da noch mehr, die das auch irgendwie unterstützen, mehr auch symbolisch.

Birgit Lang:

Diese Arbeitsgruppe „PeerMediation hinter Gittern“ ist unsere wichtigste Lobby, weil das die Menschen sind, die im Alltag mit den Inhaftierten umgehen und den Gedanken der konstruktiven Konfliktlösung auch weitertragen oder positiv verstärken können.

So ein Projekt hat vor allem dann Erfolg, wenn es uns gelingt, eine neue Kultur im Umgang mit Konflikten zu etablieren. Wir können den Jugendlichen viel beibringen, doch sie müssen im Alltag auch unterstützt werden, Konflikte einfach mal anders anzugehen. Ein Jugendlicher lernt bei uns zum Beispiel etwas und geht dann in seine Wohngruppe oder an seinen Arbeitsplatz. Da kommt dann ein anderer Inhaftierte auf ihn zu und will Stress mit ihm. Wenn ein Bediensteter, der bei uns in der Unterstützergruppe ist oder die Idee der Mediation kennt, in der Nähe ist, kann der ihn ganz anders in seinem Verhalten wahrnehmen und unterstützen.

Wie lange dauert es, so eine Konfliktkultur in so einer Organisation wie dieser hier zu etablieren? Sie haben da eben schon mal so etwas angedeutet, dass es nicht „so ganz ohne“ ist. So eine Organisationsentwicklung dauert in Unternehmen ja auch Jahre.

Birgit Lang:

Wir haben 2006 die ersten Versuche gestartet, eine PeerMediations-Ausbildung im Vollzug durchzuführen. 2007 war dann diese Ausbildung regelhaft, und bis 2017 kamen viele wertvolle Schritte auf dem Weg zur konstruktiven Konfliktkultur hinzu wie z. B. eine Dienstanweisung, die offiziell regelt, wann eine PeerMediation durchgeführt werden soll und wie das Prozedere ist. Außerdem haben wir ein Formular im Intranet, mit dem eine PeerMediation beantragt werden kann. Viele dieser Erfolge wurden erst möglich, als sich die AG PeerMediation gegründet hat und sich die Kolleginnen und Kollegen seitdem aktiv einbringen, um den Mediationsgedanken hochzuhalten.

Sicherlich sind 10 Jahre eine lange Zeit, aber wir haben seitdem viele Erfahrungen gesammelt, mussten aber auch das ein oder andere Mal Lehrgeld bezahlen. Wir hatten keine Vorbilder und mussten das Rad wirklich neu erfinden. Jetzt könnten andere Haftanstalten von unseren Erfahrungen profitieren, wenn sie selbst die PeerMediation einführen möchten.

Hartwig Taege:

Man darf nicht vergessen, dass so eine Organisation tatsächlich von oben gewollt und auch forciert werden muss - und das ist in Unternehmen sicherlich nicht anders -, und dass hier in dieser Anstalt eben auch in diesen 10 Jahren drei Anstaltsleiter verantwortlich waren, die sich natürlich auch immer wieder neu damit haben befassen müssen. Auch wenn sie uns streckenweise sehr gut unterstützt haben, so ist auch das wahrscheinlich immer wieder etwas gewesen, was auch Langsamkeit hineingebracht hat.

Können Sie sich vorstellen, dass man so ein Projekt in anderen Vollzügen auch durchführt? Oder wissen Sie sogar davon, dass das in anderen Vollzügen stattfindet?

Birgit Lang:

Von vielen Gefängnissen weiß ich nicht, dass diese ähnliche Projekte umsetzen, zumindest nicht in der Vielfalt. Wir haben das Projekt mittlerweile in unterschiedlichen Zusammenhängen vorgestellt; das Interesse war jedes Mal sehr groß. Aber natürlich gibt es dann die Sorge, dass die PeerMediation nicht von heute auf morgen funktioniert, dass so ein Projekt mit viel Engagement verbunden ist, mit viel Zeit. Wir haben letztendlich fast 10 Jahre gebraucht, bis das wirklich an dem Punkt ist, wo wir jetzt stehen. Es ist eben auch immer von den Personen abhängig, die diese Idee tragen.

Welche Inhalte vermitteln Sie, und wie ist die Ausbildung grob gegliedert?

Birgit Lang:

Wir orientieren uns an unserem Skript bzw. Curriculum, das wir selbst erstellt haben und stetig weiter entwickeln. Im Prinzip entsprechen die Inhalte dem, was auch im Rahmen der Streitschlichterausbildung in Schulen vermittelt wird.

Wir fangen an mit Glasl und den Eskalationsstufen, wir behandeln das Kommunikationsmodell, das Eisbergmodell des Konfliktes (Was ist sichtbar, und was liegt unterhalb der Wasseroberfläche an Bedürfnissen, Gefühlen, Werten und Einstellungen?), die Bedürfnispyramide und das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun. Das Ganze wird ergänzt durch viele Rollenspiele zur Festigung und Vertiefung. Die Ausbildung besteht immer aus einem Dreiklang. Wir beginnen mit einem Warm-up, also einer Übung, an der wir bestimmte Dinge plastisch darstellen möchten, die später theoretisch erklärt werden. Wir lassen z. B. zwei Teilnehmer Rücken an Rücken aus Legosteinen eine Figur bauen. Beide haben die gleichen Legosteine zur Verfügung. Der eine baut eine Figur und erklärt dem anderen, was er gerade tut. Nachher müssen zwei gleiche Gebäude oder Gebilde entstanden sein. Daran versuchen wir zu erklären, wie Kommunikation funktioniert, was wir brauchen, um einander zu verstehen. Das ist immer der Opener. Dann gibt es einen kleinen Theorie-Input, in dem wir ein Modell erklären, das wir anschließend zusammen mit den Insassen praktisch erarbeiten. Zusätzlich gibt es die Rollenspiele, in denen alles, was sie gerade gelernt haben, ausprobiert werden kann.

Hartwig Taege:

Was wir auch immer am Beginn des Workshops machen, ist eine Wiederholung dessen, was wir bisher behandelt haben. Das ist eine relativ stoische Wiederholungsrunde, hat aber den großen Vorteil, dass sie zum Schluss in der schriftlichen Prüfung im Regelfall dann auch den kompletten Stoff parat haben.

Wie muss ich mir die schriftliche Prüfung vorstellen? Ist das ein Multiple-Choice-Verfahren, oder müssen die Schüler einen Aufsatz schreiben?

Birgit Lang:

Es sind 6 DIN A4-Seiten mit Fragen, rund um die PeerMediation. Eine Frage könnte lauten: „Was fällt Ihnen zum Grundmodell der Kommunikation ein? Malen Sie es bitte auf.“ Dann müssen eben Sender und Empfänger dargestellt werden mit dem Vermitteln einer Botschaft, mit dem Senden von Feedback, und dem Verschlüsseln und Entschlüsseln einer Nachricht. Das müssten sie dann beschreiben und zeichnerisch darstellen. Dann müssen die Teilnehmer noch erklären, wie Missverständnisse entstehen können.

Wie lange dauert so eine Prüfung?

Birgit Lang:

Theoretisch stehen 2 Stunden für die Prüfung zur Verfügung, aber im Regelfall sind die Jugendlichen nach 30 bis 60 Minuten fertig.

Nicole Marschner:

Dann gibt es in der Prüfung noch ein paar übergreifende Fragen, z. B.: „Was sind deine Aufgaben als Mediator in der dritten Phase?“ Die Teilnehmer müssen dann kombinieren, was sie alles gelernt und verinnerlicht haben.

Und wie gestaltet sich die mündliche Prüfung?

Hartwig Taege:

Die mündliche Prüfung ist ein Rollenspiel, das sie in den letzten 20 Wochen immer wieder geübt haben. Das heißt, es findet eine 20-minütige Mediation statt, in der die Trainer die beiden streitenden Parteien sind, und die beiden zu prüfenden Insassen die Mediatoren.

Die Prüfungssituation dauert 20 Minuten, völlig egal, welche Phase der Mediation die Mediatoren bis dahin erreicht haben. Aber in diesen 20 Minuten müssen die Trainer(innen) den klaren Eindruck haben, dass das eine Leistung war, mit der man in eine reale Mediation gehen kann. Also, dass sie eine mediative Haltung einnehmen können, dass sie allparteilich bleiben und die Elemente der einzelnen Phasen alle auf dem Schirm haben.

Wie kommen Sie an die Teilnehmer? Werden die Teilnehmer empfohlen, oder können die sich einfach so melden?

Birgit Lang:

Die Teilnehmerakquise ist sehr unterschiedlich. Alle Inhaftierten müssen einen so genannten „Vormelder“ schreiben. Das ist ein Formular, in dem sie ihren Namen, ihre Motivation und ihre bisherigen Erfahrungen bzw. Eignung für die Mediation darstellen. Außerdem gibt es am Ende noch ein Feld, in dem die Gruppenbetreuer - das sind die Beamtinnen und Beamten auf der Wohngruppe und die zuständigen Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter  eine kurze Einschätzung zum Inhaftierten und dessen Eignung abgeben können.

Mit allen interessierten Jugendlichen machen wir ein Vorgespräch, in dem sich zeigt, ob das Interesse und die Motivation des Inhaftierten ausreichen, um eine Ausbildung durchzuhalten.

Wir haben jetzt über die Ausbildung gesprochen. Wie kommen die Mediationen selber zustande? Wie kommt es dazu, dass jetzt Konflikte per Mediation bearbeitet werden?

Birgit Lang:

Das war ein relativ langer Weg, das so zu etablieren, dass wir jetzt durchschnittlich fast eine Mediation pro Woche haben. Es gibt immer mal wieder Spitzen, dann liegen fünf Mediationen pro Woche auf meinem Schreibtisch, und dann sind es drei, vier Wochen wieder weniger Anträge, die mich erreichen. Dieser Erfolg hängt entscheidend davon ab, dass die Institution den Gedanken mittlerweile mitträgt. Es gibt hier im Gefängnis die Abteilung „Sicherheit“, die normalerweise für die Regelung von Konflikten zuständig ist. Wenn sich zwei Inhaftierte bei der Arbeit oder in der Wohngruppe geprügelt haben, werden sie zunächst von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung „Sicherheit“ befragt. Die Abteilung „Sicherheit“ vermittelt uns immer mehr Fälle, in denen keine Strafanzeige erhoben wird und die im Rahmen einer Mediation partizipativ gelöst werden können.

Zusätzlich gibt es den Weg, dass die Inhaftierten sich selbst für eine Mediation bewerben können, indem sie einen Vormelder schreiben können: „Ich möchte gerne mit dem und dem Inhaftierten mal ein Gespräch“. Die Gruppenleiter oder die Gruppenbetreuer können auch einen Antrag auf PeerMediation ausfüllen, wenn sie die Notwendigkeit einer Mediation sehen. Auf dem Formular wird kurz beschrieben, um was es geht, wie die Vorgeschichte des Konfliktes war, wer beteiligt ist und ob die Teilnahme freiwillig ist.

Wie kann man messen, ob die Ausbildungsziele erreicht werden? Gibt es da aus Ihrer Sicht irgendwie eine Möglichkeit, etwas zu evaluieren oder zu kontrollieren, und wie machen Sie das?

Birgit Lang:

Unsere Prüfung hinterfragt ganz zuverlässig, ob die Inhalte, die wir vermitteln, bei den Teilnehmern ankommen und haften bleiben. Schön ist natürlich auch zu sehen, dass die Teilnehmer, die die Mediationsausbildung hinter sich gebracht haben, auch seltener in Zwischenfälle verwickelt sind. Es kommt tatsächlich auch kaum vor, dass wir Mediatoren wieder aus dem Dienst entlassen müssen, weil sie sich selbst danebenbenommen haben.

2015 gab es außerdem eine umfangreiche Evaluation des Projektes, die unser Bauchgefühl wissenschaftlich untermauert hat. Die Insassen haben wirklich einen anderen Umgang mit Konflikten erlernt. Sie sind sozial kompetenter geworden, können Konflikte und ihre Entstehung besser erkennen und eventuell auch deeskalierend einwirken.

Die Insassen nehmen die Ausbildung sicher allgemein positiv auf, sonst würden sich nicht so viele dazu melden. Gibt es auch Abbrecher?

Birgit Lang:

Abbrecher gibt es auch; das hat aber unterschiedlichste Gründe. Häufig sind das Verlegungen in eine andere Vollzugsform, manchmal war ein Insasse auch nur ein- oder zweimal dabei und hat gemerkt, dass die Ausbildung doch nichts für ihn ist und dass er sie nicht bis zum Ende durchhalten würde. Das zeigt auch, dass die Ausbildung durchaus anspruchsvoll ist. Das ist nichts, was man nur absitzen kann, sondern die Teilnehmer müssen sich intensiv einbringen.

Hier gibt es doch sicherlich auch viele Insassen, die unterschiedlicher Herkunft sind, auch sind nicht alle der deutschen Sprache so mächtig. Wie gehen Sie mit Konflikten um, wenn nicht alle Beteiligten deutschsprachig sind? Ziehen Sie Dolmetscher zu Rate, oder wie machen Sie das dann?

Birgit Lang:

Wir haben Sprachmittler für den Vollzug, und die beziehen wir mit ein, wenn es um Mediationen zwischen nicht deutschsprachigen Inhaftierten geht. Dieses Verfahren ist sehr aufwändig und zeitintensiv. Das ständige Übersetzen macht die Mediation unter Umständen holprig und zäh.

Manchmal fragt man sich, wie Inhaftierte, die nicht die gleiche Sprache sprechen, überhaupt in Konflikt geraten, weil sie sich eigentlich gar nicht unterhalten können. Aber das ist eben das Spannungsfeld, in dem Blicke manchmal ausreichen, um sich angegriffen zu fühlen. Die Jugendlichen geraten dann in einen Konflikt, den sie aber nicht klären können, weil sie einfach keine gemeinsame Sprache sprechen. In diesem Fall ist es sehr wertvoll, sich mal an den Tisch zu setzen und mit Hilfe eines Sprachmittlers die Missverständnisse aufzuklären.

Hartwig Taege:

Es ist auch nicht ganz einfach, was die Organisation im Vorfeld betrifft. Letztendlich müssen zwei Sprachmittler organisiert werden und zum Termin da sein. Dann müssen die beiden Insassen, die den Konflikt haben, wenn sie aus unterschiedlichen Häusern kommen, zugeführt werden. Und dann müssen noch die beiden Mediatoren, die die Mediation durchführen, angesprochen, organisiert und zugeführt werden. Das bedeutet, dass schon einmal sechs Personen, die aus völlig unterschiedlichen Arbeitsbereichen kommen, zum gleichen Zeitpunkt im PeerMediationsraum sein müssen. Das ist natürlich ein Riesenaufwand, aber er findet statt. Das spricht dafür, dass auch die Anstalt letztendlich diese PeerMediation hinter Gittern ernstnimmt und nichts unversucht lässt, was im Rahmen der Möglichkeiten zur Verfügung steht.

Ein Blick in die Zukunft: Können die Insassen mit dem Erlernten auch später etwas außerhalb dieser Mauern tun? Gibt es Erfahrungen, wie sie das im Alltag nutzen? Wie erfahren Sie so etwas überhaupt? Die Inhaftierten sind ja irgendwann mal weg, und Sie sehen sie wahrscheinlich auch dann nicht mehr wieder.

Birgit Lang:

Es ist auf jeden Fall ein Thema, das die Inhaftierten nach der Haft offensichtlich noch beschäftigt. Wenn sie uns wiedersehen, reden wir häufig über die Mediation. Bei der Evaluationsstudie wurde auch mit ehemaligen Inhaftierten gesprochen, die die Mediationsausbildung absolviert haben. Sie haben durchaus bestätigt, dass ihr Verhalten in Konflikten sich zumindest in kleinen Nuancen verändert hat, es gibt Momente der Ausbildung, an die sie zurückdenken. Sie erinnern sich z. B. an das Kommunikationsmodell und die Tatsache, dass man häufig ein riesengroßes Appell-Ohr hat und man darüber nachdenken kann, ob das jetzt genau der Appell war, den der Sender einem senden wollte, oder ob es vielleicht nur das ist, was man z. B. aufgrund seiner Vorerfahrung hört.

Nur ein Beispiel: Einer der Inhaftierten suchte draußen nach Arbeit und erkundigte sich am Telefon nach einer Arbeitsstelle. Die Personalverantwortliche bat ihn darum: „Schicken Sie uns doch mal einen Lebenslauf.“ Dann legt er auf, weil er das Gefühl hat: „Die wollen einen Lebenslauf von mir; die wollen doch nur wissen, dass ich im Knast war. Das wird wieder nichts.“ Das erinnert mich an die Geschichte mit dem Hammer von Watzlawick.

Als er das in der Runde erzählt hat, haben wir ihn erinnert: „Du kennst doch dein Kommunikationsmodell. Überleg doch noch mal, warum du gleich aufgelegt hast. Welche Botschaft hast du gehört, und was hat die Dame am Telefon wirklich gemeint?“ Und das sind so Anker, die man mit der Ausbildung gesetzt hat und auf die die Inhaftierten wieder zurückgreifen können. Das finde ich ganz wertvoll.

Nicole Marschner:

Auch jetzt ist ein Teilnehmer im Kurs, der aus verschiedensten Gründen pausiert hat, der wieder anfängt und uns fragt: „Wann machen wir die Übung? Und wann kommt das Thema wieder dran?“ Und sich freut wie “Bolle“, dass er schon einen kleinen Wissensvorsprung hat. Uns zeigt das, dass viel hängen bleibt.

Wie sieht es mit Konflikten zwischen Insassen und anderen Personen, z. B. Aufsichtspersonen aus oder mit Konflikten zwischen Verwaltung und Aufsicht? Ist das ein Thema, was für Sie eine Weiterentwicklung dieser PeerMediation wäre?

Birgit Lang:

Schön wäre natürlich, wenn das wie eine Art Schneeballsystem rund um die AG PeerMediation funktionieren würde, dass die Idee immer weiter um sich greift.

Man kann sich ja vorstellen: In so einer geschlossenen Institution mit so viel konfliktträchtigen Inhaftierten bleiben die Konflikte auch zwischen den Mitarbeitern nicht aus. Das ist wirklich ein anstrengender Job; man hat jeden Tag konfliktreiche Situationen in der Auseinandersetzung mit Inhaftierten. Mein Wunsch wäre es, dass wir die Mediation Stück für Stück ausweiten können und dass sie auch für die Kolleginnen und Kollegen einen Nutzen bringt, dass sich einfach die Kultur ein Stück weit ändert.

Hartwig Taege:

Und ich finde, dass man das durchaus auch als Zukunftsvision sehen kann, dass dieses in anderen Vollzügen auch stattfindet, also, dass die Idee aus der Anstalt heraustritt und dass sie so präsent wird, dass es eine völlige Normalität wird, dass man im Gefängnis dort auftretende Probleme über eine Mediation selbstständig, eigenständig und eigenverantwortlich löst.

Gibt es besondere Herausforderungen an diese Ausbildung, weil es hier eben in diesen geschlossenen Räumen stattfindet? Muss an einem so besonderen Ort irgendetwas besonders berücksichtigt werden?

Hartwig Taege:

Die Teilnehmer setzen sich hier mit sehr existenziellen Themen auseinander. Im Vergleich zu einer Gruppe draußen, die von sich aus einen eigenen Antrieb hat, interessiert ist und damit natürlich auch mit einer ganz anderen Motivation in eine Ausbildung geht, haben wir es hier doch häufig mit Jugendlichen zu tun, die anfänglich eine eher geringere, vielleicht auch skeptischere Auffassung von einer Mediationsausbildung haben: Der Zwangscharakter einer Strafanstalt bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Es geht immer darum, die Jugendlichen zu überzeugen, mitzunehmen, zu begeistern.

Nicole Marschner:

Viele Ideen knüpfen an das Konzept des Lebendigen Lernens an: Wir versuchen kaum, frontal Inhalt zu vermitteln, so wie wir es alle aus dem Bildungshaus Schule kennen. Wir gehen den Stoff peu à peu durch, und wir versuchen, so viel Aktivität wie möglich reinzubringen, aber da kommen wir "hinter Gittern" an Grenzen. Nicht alles, was draußen in der Seminar- oder Bildungsarbeit möglich ist, ist hier auch möglich. Es ist immer gut zu gucken, was überfordert vielleicht auch letztendlich das System oder die Gruppe, und wo müssen wir Sachen verändern oder können Dinge auch einfach nicht machen, obwohl das gerade eine gute Idee wäre.

Hartwig Taege:

Es kann sein, dass man in so eine Ausbildungsrunde kommt und vorhat, das Grundmodell der Kommunikation mit den Jugendlichen zu besprechen, und dann der ganze Plan zerschlagen wird, weil die Teilnehmer mit einem Thema kommen, das so dermaßen brennt und mit dem sie sich so intensiv auseinandersetzen, dass man seinen ganzen Tagesplan einfach nur umstoßen muss und sagen muss: „Gut, wenn ihr einfach so ein stark brennendes Thema habt, dann müssen wir darüber reden.“ Und dann muss man gucken, ob dafür vielleicht eine halbe Stunde reicht und man dann doch noch mit dem Kommunikationsmodell loslegen kann, oder ob man eben sagt: „Wir müssen schieben.“

Mediation wird auch oft im Kontext „Täter-Opfer-Ausgleich“ eingesetzt bzw. spielt da eine gewisse Rolle. Gibt es das hier auch? Gibt es dazu eine Verbindung?

Birgit Lang:

Wir sind auch bereit einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen, wenn Konflikte im Rahmen des Gefängnisses entstehen. Wir fragen dann den Leidtragenden „Unter welcher Bedingung würdest du einer Mediation zustimmen? Was müsste der, der dir jetzt gerade wehgetan hat, dich gequält oder dich verletzt hat, tun, damit du so viel Vertrauen zu ihm fassen kannst, dass du dich auf eine Mediation einlässt?“ So kann im Idealfall vor der Mediation eine Situation hergestellt werden, in der sich die beiden Konfliktparteien auf Augenhöhe begegnen können.

Haben Sie so ein ganz besonderes Erlebnis, worüber Sie mal sprechen würden?

Birgit Lang:

Ja, es gibt schon so genannte „Sternmomente“.

Nach einer Mediation setzen wir uns mit den PeerMediatoren zusammen und reden auf Augenhöhe quasi unter Kollegen miteinander, werten den Konflikt und die Mediation aus. Und das finde ich, sind schon die Momente, die letztendlich am schönsten sind. Wenn die Jugendlichen berichten, wie schön das Gefühl ist, etwas mit ihren Worten zu bewirken. Und wenn sie zugeben können, dass sie im Laufe der Mediation auch unsicher waren oder verstanden haben, dass sie selbst schon in ähnlichen Konfliktsituationen waren.

Wenn sie in den Perspektivwechsel gehen und diese Vogelperspektive für sich nutzen können, mal einen Konflikt von außen gesehen zu haben, der eigentlich auch ein Konflikt sein könnte, den sie schon erlebt haben. Und darüber dann natürlich auch Lösungsstrategien für sich selber entwickeln können. Das finde ich, sind eigentlich die schönsten Augenblicke.

Nicole Marschner:

An eine Sache muss ich gerade denken, das ist noch gar nicht so lange her. Es ging um das Vier-Ohren-Modell. Ein Teilnehmer saß in der Runde, der staunend guckte und dann zu uns gewandt sagte: „Krass! Krass, wenn Sie das so sehen. Das ist ja das Krasseste, was ich je gedacht hab. So habe ich ja noch nicht mal gedacht, als ich voll bekifft war.“ Wir sitzen dann da, bewahren die Contenance und freuen uns, wenn bei jemandem etwas richtig angekommen ist. Das ist tatsächlich auch das, was mein Motor ist, dass ich im Projekt  immer weitermache und denke: „Das macht Sinn. Das ist gut.“

Frau Marschner, Sie waren neulich in Riga und haben an einer internationalen Konferenz teilgenommen Haben Sie mit Vertretern anderer Länder über das Projekt gesprochen, und wie war die Resonanz?

Nicole Marschner:

Ja, es ging darum, sich bezüglich des Lernens und der Methodik in geschlossenen Institutionen auszutauschen. Wie funktioniert das in anderen europäischen Ländern am Ort „Vollzug“? Es waren auch Teilnehmerinnen anwesend, die in Zentren für geflüchtete Menschen arbeiten. Es wurden unterschiedliche Projekte und Formate vorgestellt. Es kamen Menschen aus acht Ländern zusammen, vor allem aus vielen osteuropäische Ländern wie Lettland, Georgien, Litauen, Slowenien, aber auch Italien, Spanien, Belgien und Deutschland waren vertreten. Es fiel auf, dass unser Projekt schon ein Satelliten-Projekt ist; da gab es nichts Vergleichbares. Es gab viel Zuspruch, Ansehen und Bewunderung, weil viele festgestellt haben, dass sie sich in ihren Einrichtungen oder Ländern nicht vorstellen können, so etwas umzusetzen. In den anderen Ländern sind oft ganz andere Themen akut. Es geht zum Beispiel eher darum, dass und wie ein Sprachkurs gut funktionieren kann.

Also, da geht es dann mehr um sachliche Dinge oder um Wissen, und nicht um Haltung und Sozialkompetenz und Ähnliches?

Nicole Marschner:

Ja, so war mein Eindruck durch die Gespräche. Der Ort, der erst einmal für Schutz, Regelung und Sicherheit sorgt, das war viel mehr Thema für viele. Auch die Seminarleitung, die dieses Format schon öfter angeboten hat, war sehr angetan. Da fiel einfach schon auf, dass unser Projekt nicht nur in Berlin etwas Besonderes ist, sondern auch über die Grenzen hinaus.

Frau Lang, Frau Marschner, Herr Taege, ich danke Ihnen sehr für dieses interessante und informative Gespräch.

Das Interview führte Robert Glunz.

Wir bedanken uns ausdrücklich bei unserer ehrenamtlichen Mitarbeiterin Hilla Michel gen. Kemper, die die Übertragung der digitalen Audiodateien in Schriftform vorgenommen hat.