Im Gespräch mit Michael Hübler

Über Konflikte in der Corona-Krise sprechen wir mit Michael Hübler.

Michael Hübler ist seit vielen Jahren als Trainer, Berater, Coach, Mediator und Autor tätig. In der Deutschen Stiftung Mediation wirkt er als ehrenamtlicher Mitarbeiter in Mittelfranken mit.

Herr Hübler, Sie beobachten die Entwicklungen in der aktuellen Corona-Krise sehr aufmerksam. Welchen Einfluss hat nach Ihrer Wahrnehmung die Krise auf die Menschen? 
Die Krise wirkt wie ein Erdbeben. Hier verschieben sich Erdplatten und fügen sich komplett neu zusammen. Das liegt daran, dass das Thema Corona die Menschen in zwei Gruppen spaltet, was immer gefährlich ist, wie wir anhand des Brexits oder Stuttgart21 gesehen haben. Ich kenne Menschen, die seit Jahrzehnten gute Freunde sind und sich jetzt nicht mehr verstehen. Die einen finden auf einmal einen bestimmten Politiker super oder hängen an den Lippen unseres Chef-Virologen und die anderen werden zu Verschwörungstheoretikern. Diese extremen Sichtweisen entzweien die Menschen.
 
Wie gehen nach Ihrer Wahrnehmung die Menschen mit der aktuellen Situation um?

Ich nehme verschiedene Typen von Menschen war. Da sind die Optimisten. Das sind meistens Menschen, die im Homeoffice arbeiten, leichte Kürzungen hinnehmen müssen, aber eigentlich sorglos sein können. Dieser Typus kann die Auszeit tatsächlich als kleinen Urlaub nutzen und auch optimistisch in die Zukunft blicken, was die positiven Auswirkungen der Krise auf die Umwelt angeht.

Dann gibt es Macher, die die Krise nutzen, um Gewinn daraus zu ziehen. Das kann ein G‘schmäckle haben, wie wir im Schwäbischen sagen, also anrüchig, oder aus der Not geboren sein: Ich nehme gerade einen ganzen Haufen Podcasts auf, weil beinahe alle meine Seminare ausfallen.

Ergänzend dazu gibt es Kritiker, die aktiv auf Demonstrationen gehen und auf Internetforen die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen diskutieren. Leute, die sich ein eigenes Bild machen wollen, um zu verstehen, was hier gerade passiert. Das sind meistens Leute, die sich nicht ausruhen können und die diese Krise hibbelig macht. Das können auch Menschen sein, denen es schwer fällt, ein Grundvertrauen zum Staat zu haben.

Dann gibt es natürlich Depressive bis Suizidale, die hoch verängstigt sind und die Wohnung nicht mehr verlassen, weil sie zum Beispiel in einem Video gesehen haben, dass das Virus überall ist. 

Dann gibt es die Menschen, die dem Staat weitgehend vertrauen. Das waren zu Beginn sehr viele. Aktuell werden es weniger, weil die persönliche Unzufriedenheit oder auch das Leiden steigt. Ähnlich wie die Optimisten wartet dieser Typus ab, weil er ohnehin nicht viel tun kann. 

Und schließlich gibt es Verschwörungstheoretiker. Das ist eine sehr schwierige Gruppe, weil normalerweise Verschwörungstheoretiker wirklich weit weg sind von klaren Fakten. Bei Corona verändern sich jedoch die Fakten schneller als mancher in der Quarantäne seine Unterhosen wechselt. Während es beispielsweise zu Beginn der Krise als Fake News galt, dass Kliniken kaum Corona-Patienten haben, ist dies heute eine offizielle Nachricht. Deshalb plädiere ich sehr dafür Kritiker und Verschwörungstheoretiker zu unterschieden.

Was kann denn Mediation in der aktuellen Situation leisten? Ist sie überhaupt das richtige Verfahren in dieser Zeit?

Ich möchte hier zwei verschiedene Ansätze unterschieden: zum einen den gesellschaftlichen Auftrag von Mediation und zum anderen die klassische Mediation.

Aktuell befinden wir uns in einer Vorstufe möglicher klassischer Mediationen. Die Meinungen prallen bereits heftig aufeinander. Entfreundungen sind im Gange oder haben bereits stattgefunden. Paare streiten sich. In systemrelevanten Nicht-Homeoffice-Unternehmen wie Kliniken oder im sozialen Bereich kommt es ebenso zu Verwerfungen, weil manche sich aus Angst krank melden, während andere die ganze Arbeit schultern. Dennoch sind das nach meiner Meinung noch keine klassischen Fälle für eine Mediation. Das liegt daran, dass in der Hochphase einer Krise alles auf‘s Funktionieren gepolt ist. Wirkliche mediative Fälle im klassischen Sinn werden erst nach der Krise auftauchen.

Auf der anderen Seite haben Mediatoren einen gesellschaftlichen Auftrag, um mit einer mediativen Haltung vor allem zwischen Verschwörungstheoretikern und Staatsgläubigen zu vermitteln, beispielsweise in Internetforen. 

 
Wie haben sich Konflikte durch die Corona-Krise verändert?

Die Krise schiebt viele andere Konflikte hinfort. Die Menschen bekennen sich automatisch zu einer Seite. Dadurch verhärten sich die Fronten. Es kommt in der Krise relativ häufig zu sogenannten Brunnenvergiftungen: Wenn du für die Maßnahmen bist, bist du automatisch staatshörig. Wenn du dagegen bist, bist du 1. ein Aluhutträger, 2. willst du meine Eltern töten und 3. gehörst du vermutlich einem extremen politischen Lager an.

Es ist spannend zu sehen, wie hier ein Massenkonflikt im Privaten ausgetragen wird, der eigentlich auf der großen politischen Bühne zwischen Wissenschaftlern, die für oder gegen die Maßnahmen sind, ausgetragen werden sollte.

Wenn wir die aktuelle Situation mit einem Krieg vergleichen, ist der Krieg im Außen, das heißt er ist irgendwann einmal vorbei. Das Pulver ist sozusagen verschossen. Hier besteht der Krieg im Innen. Das ist sozusagen ein psychologischer Krieg mit uns selbst; das heißt wir Menschen müssen selbst mit unseren Ängsten klar kommen. Ich sah neulich ein interessantes Interview von einem Psychiater, der meinte: Wenn ich nach draußen gehe, könnte mir ein Dachziegel auf den Kopf fallen. Ist das jedoch ein Grund nicht nach draußen zu gehen? Wenn ich jemanden umarme, könnte ich mir auch was holen. Ein Mikrobiologe würde dann sagen: Ich muss mir sogar was holen, um mir sozusagen ein mikrobiotisches Update zu holen. Die Angst, in der viele Menschen sind, überlagert allerdings alle anderen Aspekte, die wir auch zum Leben brauchen. Das Problem ist, dass diese anderen Aspekte sich nicht in Zahlen fassen lassen. Während die Infizierten sich beziffern lassen, lassen sich Depressionen, Mikroben etc. schwer messen.

Der Krieg gegen das Virus findet eben nicht wie ein normaler Krieg statt, sondern verlagert sich in die vier Wände der Quarantäne. Damit führt er jedoch zu Autoaggressionen oder Gewalt in der Familie. Das ständige Aufeinanderhocken führt automatisch zu einer erhöhten Reizbarkeit. Das geht selbst mir so mit meinen beiden Kindern. Dabei verstehen wir uns eigentlich blendend und gehen auch regelmäßig spazieren. Ich kenne jedoch viele Familien, die vor Angst nicht mehr nach draußen gehen.

Wie denken Sie, dass diese Krise unsere Gesellschaft verändern wird?
Ich muss leider zugeben, dass ich derzeit eher pessimistische Visionen habe. Aber ich kann es als vorsichtige Warnung formulieren: Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht an die Distanz gewöhnen und unsere Ängste kultivieren. 
 
Welche Prognose haben Sie für das Auftreten von Konflikten in Unternehmen nach einer Rückkehr in eine gewisse „Normalität“?

Aktuell beobachte ich eine starke Tendenz der Verdrängung. Allerdings passieren auch in Unternehmen starke Verwerfungen. Dabei ist es wichtig zwischen Frontmitarbeitern und Homeoffice zu unterscheiden. Wenn sich Mitarbeiter aus Angst krank melden, während andere den Alltag meistern, führt das zu Opfern und Verwerfungen, die nach der Krise aufgearbeitet werden sollten. Es kann sein, dass es nach der Krise dazu erst einmal keine Zeit gibt. Dann jedoch könnten solche Verletzungen zu Sticheleien oder Mobbing führen. Besser wäre es, sofort – wenn der Konflikt noch warm ist – einzuhaken und die Sache zu klären.

Bei Homeoffice geht es aus meiner Wahrnehmung um weniger existenzielle Themen: ein paar kommunikative Probleme, mangelnde Erreichbarkeit, Ärger mit der Technik oder Ähnliches. Auch hier ist es wichtig, die Erfahrungen aufzuarbeiten, allerdings mehr auf einer sachlichen Ebene.

Wie kann oder sollte sich Mediation verändern um den künftigen Konflikten zu begegnen?

Mediation ist ein Verfahren, das einer Feuerwehr gleicht. Ich habe mich auch als freiwilliger Helfer gemeldet, um bei Krisen angerufen zu werden. Bisher kam kein einziger Anruf. Das hat vermutlich mit Scham zu tun. Einen Externen zu rufen und Familiengeheimnisse preiszugeben ist der absolut letzte Schritt. Dann ist es jedoch oftmals schon fast zu spät, vor allem wenn es um Familienkonflikte geht.

Was wünsche ich mir? Eine breitere Aufstellung der Mediation, eine Art niederschwellige Konfliktberatung. Es gibt solche Ansätze, zum Beispiel in der Arbeit mit Schulkindern, mit denen es nicht möglich ist, drei Sitzungen zu 1,5 Stunden durchzuführen. Da müssen schnelle Lösungen her. Natürlich können damit keine tiefer liegenden Konflikte gelöst werden. Die Situation in einer halbstündigen Telefonberatung ist jedoch eine ganz ähnliche. Es wäre spannend, einen Sektor in der Mediation zu entwickeln und auch als niederschwelliges Angebot zu vermitteln, der einen solchen Ansatz verfolgt. Das wäre dann der Ansatz „Überleben in der Krise“ anstatt „Dauerhafte Lösung des Konflikts“.

Herr Hübler, vielen Dank für das spannende Gespräch.

Das Gespräch führte Dr. Andrea Zechmann.

Die Fortsetzung dieses Interviews, Teil 2, finden Sie in unserem Youtube-Channel.